Hierzulande wird die Inflation 2023 wieder moderater ausfallen, schätzt Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. Im Interview erklärt er, warum die Schweiz in der Regel weniger stark von der Teuerung betroffen ist als ihre Nachbarn. Zudem sagt er, warum Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber nicht mit einer Lohn-Preis-Spirale rechnen müssen.
Spätestens mit dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs wurde die Inflation zum absoluten Thema Nummer 1 für KMU. Bleibt das 2023 so?
Martin Neff: In der Schweiz haben wir den Inflations-Peak in meinen Augen überschritten. Für 2022 wird die mittlere Teuerung noch bei rund 3 Prozent liegen. 2023 dürfte sich die Rate bei zirka 2,5 Prozent einpendeln. Das liegt zwar knapp über dem Toleranzbereich der Nationalbank, ist aber eigentlich moderat. Früher hätte man das noch in die Kategorie Preisniveau-Stabilität eingeordnet. Anders sieht die Situation in der Eurozone oder den USA aus: Dort werden die höheren Beschaffungs- und Produktionskosten massiv auf die Konsumentinnen und Konsumenten überwälzt. Die Inflation hält sich dort deshalb hartnäckiger auf einem höheren Niveau.
Verantwortlich für die Kostensteigerungen sind insbesondere die hohen Energie- und Rohstoffpreise. Wie wahrscheinlich sind hier weitere Schocks?
M.N.: Solche können wir überhaupt nicht ausschliessen. Grundsätzlich bleiben die Märkte angesichts von geopolitischen Spannungen und den Auswirkungen der Zinsstraffung unberechenbar. Darüber hinaus hängen die europäischen Energiepreise natürlich vor allem davon ab, wie sich der Konflikt in der Ukraine entwickelt.
Neben der Energiekrise: Welche Faktoren sind aktuell massgebend für die Entwicklung der Teuerung?
M.N.: Lieferketten-Engpässe lassen die Einstandspreise weiterhin steigen. Aber auch von der faktischen Vollbeschäftigung geht in Europa und den USA ein gewisser Teuerungsdruck aus: Ist der Arbeitsmarkt gesättigt und die Ausgabenbereitschaft wie jetzt nach der Pandemie gross, kann die hohe Nachfrage nicht einfach kurzfristig mit Produktionsausweitungen gedeckt werden. Stattdessen steigen die Preise. Das zentralste Kriterium für die Entwicklung der Inflation ist aktuell jedoch die Weitergabe der hohen Kostensteigerungen an die Verbraucherinnen und Verbraucher in Form von höheren Endverkaufspreisen.
Unternehmen in der Schweiz wälzen ihre Mehrkosten offenbar weniger stark ab als anderswo. Warum?
M.N.: Das hat teils mit unserem hohen Preisniveau zu tun. Wir sind kein Billiglohn- oder Billigpreisland. Im Gegenteil. Auf einer Hochpreisinsel ist es immer schwierig, die Preise weiter zu erhöhen. Die Konsumentinnen und Konsumenten sind da sehr aufmerksam und kritisch. Zudem ist der Hebel bei dem bereits höheren Preisniveau kleiner. Deshalb steht die Schweiz bezüglich Inflation in der Regel besser da als ihre Nachbarländer. Daneben haben wir zusätzlich unsere starke Währung, welche in Krisenzeiten als sicherer Hafen gesucht ist und sich deswegen aufwertet. Dies wiederum wirkt als eine Art Puffer gegen die Teuerung.
Gleichzeitig verstärkt die Franken-Aufwertung das Preisgefälle zwischen der Schweiz und der Eurozone. Erwachsen daraus Probleme für die exportorientierte Schweizer Wirtschaft?
M.N.: Das ist kein neues Phänomen. Wir haben nach wie vor eine starke Exportwirtschaft, erwirtschaften nach wie vor einen starken Leistungsbilanzüberschuss. Die Franken-Aufwertung im langjährigen Mittel beträgt 3 bis 5 Prozent. Damit konnten wir immer gut leben, auch weil dabei gleichzeitig die Kosten der Schweizer Exporteure weniger stark zunehmen.
Mit der Inflation steigen die Löhne. Wie hoch erwarten Sie die Lohnsteigerungen für 2023? Müssen Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber gar mit einer Lohn-Preis-Spirale rechnen?
M.N.: Das glaube ich nicht, die Teuerung dürfte im Schnitt kaum komplett ausgeglichen werden. Ich rechne auf 2023 mit einer Lohnsteigerung von 2 bis 3 Prozent, also mit einer leichten Reallohneinbusse. Und wenn der Aufwärtstrend der Inflation im Herbst 2022 wie erwartet seinen Höhepunkt überschritten hat, dürften die Lohnforderungen im Herbst 2023 dann eher wieder moderater ausfallen.
Global steigende Zinsen erhöhen die Gefahr einer nächsten Schuldenkrise. Wie wahrscheinlich ist dieses Szenario und wie wären Schweizer KMU davon betroffen?
M.N.: Die Schuldenkrise ist seit 2008 eigentlich ein kontinuierlicher Zustand in Europa. Die EU will dem nun mit einer Anpassung der Schuldenregeln und Rückzahlungsmodelle begegnen. Zu einer akuten Krise wird sich das Problem erst einmal also kaum zuspitzen. Man kickt die Dose weiter die Strasse hinunter. Entsprechend gering ist die Betroffenheit der Schweizer KMU.
Martin Neff ist seit April 2013 Chefökonom der Raiffeisen-Gruppe. Er war nach Abschluss seines Studiums der Volkswirtschaftslehre an der Universität Konstanz zunächst als Berater bei der S&Z GmbH in Allensbach, Deutschland, tätig bevor er 1988 zum schweizerischen Baumeisterverband (SBV) in Zürich wechselte. Dort wirkte er als Bereichsleiter für Konjunkturbeobachtung. Martin Neff ist zudem als Fachrat und Dozent im Institut für Finanzdienstleistungen (IFZ) in Zug tätig und lehrt an der Donau-Universität in Krems, Österreich, Immobilienökonomie.