CIO Kolumne: «Mehr Selbstverantwortung tut gut»
Das ganze Risikogelaber nervt mich. Gesünder essen, mehr Bewegung und genügend Schlaf. Ich weiss schon, dass ich mit gewissen Lebensgewohnheiten ein Risiko eingehe. Aber ich mache das bewusst. Ich liebe Schwarzwäldertorte. Vielleicht stehen am Ende ein paar Jahre weniger auf der Uhr, dann sei es so. Trotzdem geniesse ich zu einem guten Essen gerne ein Glas Wein, und wenn die Mahlzeit weniger gut ist vielleicht auch zwei. Oder umgekehrt. Aber das ist meine Sache, ich kenne die Risiken. Sie brauchen sich jetzt nicht zu sorgen, ich treibe regelmässig Sport, esse jeden Tag einen Apfel und trage seit 20 Jahren dieselbe Kleidergrösse.
«Nur wenn ich als Anleger weiss, worauf ich mich einlasse, kann ich einschätzen, was auf dem Spiel steht.»
Das mit den Risiken zieht aber immer weitere Kreise. Letztlich geht es darum, einen Schuldigen zu finden, der für das eigene Fehlverhalten geradesteht. Das ist falsch. Die Lösung heisst Selbstverantwortung. Das gilt auch beim Investieren. Von Berufswegen bin ich ja dazu verpflichtet, auf die Risiken beim Anlegen hinzuweisen. Das ist wichtig und zentral. Nur wenn ich als Anleger weiss, worauf ich mich einlasse, kann ich einschätzen, was auf dem Spiel steht. Und deshalb sollte letztlich jeder Investor selbst entscheiden, wie er sein Geld anlegt und welche Risiken er einzugehen bereit ist.
Es ist eine Tatsache, dass der Swiss Performance Index (SPI) in den vergangenen 30 Jahren im Schnitt zwischen 8% und 9% pro Jahr rentiert hat. Aber wissen Sie was? Das ist ein Durchschnittswert, tatsächlich lag die Rendite in keinem einzigen Jahr seit 1988 genau in diesem Bereich. Vielmehr lag sie zwischen -34% und +55%. Aus diesem Grund predigen wir immer davon, dass Investieren eine langfristige Angelegenheit sei. Und trotzdem suchen viele einen Verantwortlichen, wenn das Portfolio kurzfristig um einen Drittel einknickt. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sich niemand darüber beschwert, wenn das investierte Vermögen 50% zulegt. Dann nehmen es die Anleger auf ihre Kappe und sagen: «Ich habe halt die richtige Strategie gewählt.» Wie beim Fussball: Wir gewinnen, aber die Schweizer Nationalmannschaft verliert.
«Wer sich bei sinkenden Kursen schnell unwohl fühlt, dessen Risiko ist wohl zu hoch.»
Und jetzt? Die Börsen haben seit Anfang Jahr Terrain eingebüsst. Mein Portfolio hat seit Anfang Jahr deutlich Federn gelassen. Bei Ihnen wahrscheinlich auch. Dafür aber allein die Banken zur Verantwortung zu ziehen, ist in vielen Fällen falsch. Die Situation zeigt vielmehr, ob das Risikoprofil des Anlegers das Richtige ist. Wer sich bei sinkenden Kursen schnell unwohl fühlt, dessen Risiko ist wohl zu hoch. Das liegt aber mit grösster Wahrscheinlichkeit daran, dass bei der Risikoevaluation geschummelt wurde. Denn wenn die Börse steigt, neigen Anleger dazu, sich und ihre Risikobereitschaft zu überschätzen. Niemand will etwas verpassen. Aber auch hier gilt: Seien Sie ehrlich mit sich und Ihrem Betreuer, nur dann kann er Sie richtig beraten. Man wird Sie nicht als Hasenfuss abstempeln, nur weil Sie weniger Risiken eingehen möchten.
Ich sehe das mit der Korrektur tatsächlich etwas pragmatischer. Ich besitze beispielsweise immer noch genau gleich viele Aktien des Pharmakonzerns Roche. Obwohl der Aktienkurs eingebüsst hat. Ich habe den Titel gekauft, weil ich mich an der Firma beteiligen wollte und langfristig an den Erfolg glaube. Daran hat der niedrigere Aktienkurs nichts geändert. Die Schwäche am Aktienmarkt nutze ich für Zukäufe. Das mache ich auch wenn meine Lieblingsschokolade Aktion ist, wieso also nicht an der Börse.
Matthias Geissbühler, Juni 2022
Matthias Geissbühler
Chief Investment Officer Raiffeisen Schweiz
Seit Januar 2019 ist Matthias Geissbühler als Chief Investment Officer (CIO) von Raiffeisen Schweiz für die Anlagepolitik verantwortlich. Zusammen mit seinem Team analysiert er kontinuierlich die weltweiten Geschehnisse an den Finanzmärkten und entwickelt die Anlagestrategie der Bank.