CIO Kolumne: «Turbulente Zeiten»

5526 Punkte. Auf diesem Niveau schloss der Swiss Performance Index (SPI) am 2. Oktober 2000. Es war mein erster Arbeitstag als Finanzanalyst – und gleichzeitig mein Einstieg ins Berufsleben. Mit viel (Vor-)Freude bin ich in diesen neuen Lebensabschnitt gestartet. Schliesslich herrschte eine regelrechte Aufbruchstimmung. Das Internet wurde ausgerollt und versprach riesige Produktivitätsfortschritte und völlig neue Geschäftsmodelle. Die Börsen boomten. Hätte ich damals gewusst, was mir unmittelbar bevorstehen würde, dann hätte ich mich vielleicht um einen Job als Consultant bemüht oder wäre (noch besser) mit dem Rucksack einmal um die Welt gereist. 

Was kam, kann ich kurzfassen: Die Technologieblase platzte fulminant. Fast zweieinhalb Jahre leuchteten die Börsenkurse auf meinem Bildschirm (fast) ausschliesslich rot. Es ging runter und runter und runter. Erst am 12. März 2003 erreichte der SPI bei 2568 Punkten seinen Tiefststand. Ein Minus von 53.5%. Wenn mir also heute jemand von wegen turbulenten Börsen kommt, bleibt mir bestenfalls ein müdes Lächeln übrig. 

«Aktienkurse werden stark vom Anlegerverhalten beeinflusst. Und dieses ist selten rational.»

Mein Berufsstart in der Finanzindustrie war also alles andere als lustig. Dafür war es eine lehrreiche und prägende Zeit. Ein Fazit vorweg: Vergessen Sie die Mär von den effizienten Märkten. «Mr. Market» ist ein manisch-depressiver Zeitgenosse. Mal surft er auf einer Euphoriewelle, nur um sich kurze Zeit später frustriert in einem Tal der Tränen wiederzufinden. Anlageentscheide, welche allein auf Fundamentaldaten beruhen, entpuppen sich deshalb nicht selten als Enttäuschung. Der Grund: Aktienkurse werden stark vom Anlegerverhalten beeinflusst. Und dieses ist selten rational. Die Stimmungslage der Anlegerinnen und Anleger zu erkennen und vor allem Trendbrüche frühzeitig zu antizipieren, ist eines der Erfolgsrezepte beim Investieren. 

Turbulenzen habe ich auf meinem weiteren Karriereweg noch einige durchlebt. Die Immobilien- und Bankenkrise 2008/2009 schüttelte die Börsen abermals so richtig durch. Und auch in jüngster Zeit wurden wir durch die Corona-Pandemie und den Ukraine-Krieg wahrlich nicht verschont. Die interessante Frage ist: Wie können wir mit solchen Turbulenzen umgehen?

Erstens: Üben Sie sich in Gelassenheit. Lesen Sie die Schriften von Seneca, Marc Aurel, Epiktet – und werden Sie zum Stoiker. Viele Entwicklungen können wir nicht beeinflussen. Sie sind, wie sie sind. Die Anlageperformance 2022 vieler Anlegerinnen und Anleger war wegen dem Ukraine-Krieg, Lieferengpässen und dem raschen Zinsanstieg zweistellig negativ? Nicht schön. Aber stellen wir uns vor, wir müssten jetzt irgendwo an der Front im Donbass kämpfen. Oder in Mariupol in der zerbombten Stadt ohne Strom und Heizung leben? Vor diesem Hintergrund ist ein Buchverlust im Depot wohl noch zu verkraften. 

«Selbst wenn Sie kurz vor dem Platzen der Technologieblase eingestiegen wären, hätte sich Ihr Vermögen bis heute fast verdreifacht.»

Das Stichwort «Buchverluste» bringt mich zum zweiten Punkt: Aktienmärkte schwanken. Mal geht es steil bergauf, und ab und zu kommt es zu scharfen Korrekturen. Ich habe eingangs vom Platzen der Dotcom-Blase und dem darauffolgenden zweieinhalbjährigen Bärenmarkt geschrieben. Doch wo steht der SPI heute? Bei satten 14'500 Punkten. Selbst wenn Sie kurz vor dem Platzen der Technologieblase eingestiegen wären, hätte sich Ihr Vermögen bis heute fast verdreifacht. Oder ganz konkret: Die jährliche Durchschnittsrendite bis heute betrug 4.5%. Und da sind die Immobilienkrise, die Pandemie und das schlechte Börsenjahr 2022 mitberücksichtigt. Entscheidend beim Anlegen ist es – speziell in turbulenten Börsenphasen –, an der langfristigen Anlagestrategie festzuhalten. Die Zeit und der langfristige Trend sprechen für Sie. 

Ein dritter Punkt: Legen Sie nie alle Eier in einen Korb. Diversifizieren Sie! Hätte ich bei meinem Berufsstart alles auf die Technologiekarte gesetzt und die damaligen Highflyer-Aktien wie Lucent, Blackberry oder Netscape gekauft, so wäre ein Grossteil meines (damals noch sehr bescheidenen) Vermögens verloren gewesen. Trends kommen und gehen. Wer in den breiten Markt investiert, muss sich darüber keine Gedanken machen und gehört langfristig zu den Gewinnern. 

Für 2023 wünsche ich uns allen etwas weniger Turbulenzen. Und vielleicht kommen wir in der Tat wieder in etwas ruhigere Gewässer. Eines ist aber so sicher wie das Amen in der Kirche: Früher oder später kommt der nächste Sturm. Nehmen Sie es gelassen, setzen Sie auf den Faktor Zeit und eine breite Diversifikation. So werden Sie auch zukünftige Turbulenzen gut überstehen.

 

Matthias Geissbühler, Februar 2023

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Portrait Matthias Geissbühler

Matthias Geissbühler

Chief Investment Officer Raiffeisen Schweiz

Seit Januar 2019 ist Matthias Geissbühler als Chief Investment Officer (CIO) von Raiffeisen Schweiz für die Anlagepolitik verantwortlich. Zusammen mit seinem Team analysiert er kontinuierlich die weltweiten Geschehnisse an den Finanzmärkten und entwickelt die Anlagestrategie der Bank.

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