AHV 21: Nach der Reform ist vor der Reform
Gerademal 32'316 Stimmen gaben den Ausschlag: Das Schweizer Stimmvolk hat die Änderung des AHV-Gesetzes hauchdünn angenommen. Dabei wurden die Romandie, das Tessin und die Frauen massiv überstimmt. Raiffeisen Vorsorgeexperte Tashi Gumbatshang ordnet das Abstimmungsergebnis ein. Und er erklärt, warum Selbstverantwortung in der Vorsorge essenziell bleibt.
Frauen arbeiten neu bis 65
Es war haarscharf: Mit einer Zustimmung von 50.6 Prozent hat die Schweizer Stimmbevölkerung am 25. September die Änderung des AHV-Gesetzes beschlossen. Damit erhöht sich das Pensionsalter der Frauen schrittweise von 64 auf 65 Jahre. Zudem wird der Rentenbezug für beide Geschlechter flexibler.
Gut zu wissen
AHV 21 – die wichtigsten Änderungen
Einheitliches Rentenalter (neu: «Referenzalter») 65 für Frauen und Männer
Flexiblerer Rentenbezug für Frauen und Männer: Zeitpunkt neu zwischen 63 und 70 Jahren frei wählbar mit der Möglichkeit, nur einen Teil der Rente vorzubeziehen oder aufzuschieben – für einen fliessenden Übergang in den Ruhestand
Erhöhung der Mehrwertsteuer von 7.7 auf 8.1 Prozent
Betrachtet man das Abstimmungsergebnis nach Kantonen, zeigt sich ein tiefer Röstigraben: Die Romandie, aber auch das Tessin, lehnten die Gesetzesänderung durchwegs ab – in der Deutschschweiz taten dies nur Basel-Stadt, Solothurn und Schaffhausen. Für Tashi Gumbatshang ist dieser Ausgang keine Überraschung. «In unserem Vorsorgebarometer sehen wir regelmässig einen Graben zwischen der lateinischen und der deutschen Schweiz», so der Raiffeisen Vorsorgeexperte. Den Grund macht er in kulturellen Unterschieden aus:
«In der Romandie und im Tessin sieht man punkto Vorsorge eher den Staat in der Verantwortung, in der Deutschschweiz das Individuum. Dafür ist man in der lateinischen Schweiz auch eher bereit, höhere Steuern zu zahlen.»
Tashi Gumbatshang, Leiter Beratungszentrum Vermögen & Vorsorgen bei Raiffeisen Schweiz
Historischer Geschlechtergraben
Neben dem Röstigraben tut sich ein noch nie dagewesener Graben zwischen den Geschlechtern auf: 63 Prozent der Frauen lehnten die Erhöhung des Rentenalters ab, 65 Prozent der Männer stimmten für die Vorlage. «Der historische Geschlechtergraben lässt sich sehr einfach erklären: Wir hatten bei dieser Vorlage den seltenen Fall, dass eine Reform nur ein Geschlecht direkt betrifft», sagt Tashi Gumbatshang.
«Man darf diesen Geschlechtergraben also nicht überbewerten.»
Tashi Gumbatshang, Leiter Beratungszentrum Vermögen & Vorsorgen bei Raiffeisen Schweiz
Dennoch: Die Diskussion über die AHV 21 wurde mit der Zeit immer mehr zu einer Diskussion über Lohn-, Renten- und Chancengleichheit. Diese Entwicklung erklärt für Gumbatshang auch den knappen Ausgang der Abstimmung. Im Juni, bei den Erhebungen für das Vorsorgebarometer 2022, sah die Situation noch etwas anders aus. Damals sprachen sich über 76 Prozent der Befragten für eine Anpassung des Pensionsalters aus – die Mehrheit davon für ein einheitliches Rentenalter 65.
Teilzeitarbeitende besser absichern
Das Vorsorgebarometer 2022 hat insgesamt ergeben: Die Schweizerinnen und Schweizer vertrauen dem Dreisäulensystem und wollen es gezielt stärken. Die Bevölkerung hat erkannt, dass es eine Reform der Vorsorgewerke braucht, damit das System trotz des demografischen Wandels langfristig gesund bleibt. Dem trug die Stimmbevölkerung Ende September Rechnung. Das knappe Resultat ist für Vorsorgeexperte Gumbatshang aber eine klare Botschaft:
«Jetzt gilt es, die soziale Sicherheit der Frauen zu verbessern, ob via 2. Säule oder Arbeitsmarkt.»
Tashi Gumbatshang, Leiter Beratungszentrum Vermögen & Vorsorgen bei Raiffeisen Schweiz
In der 2. Säule, der obligatorischen beruflichen Vorsorge (BVG), könnte so eine Verbesserung durch die Senkung des Koordinationsabzugs erreicht werden. So sieht es der Entwurf der Reform BVG 21 auch vor; dieser hängt momentan in der Sozialkommission des Ständerats. Mit der Senkung würde ein höherer Lohnanteil versichert. Personen mit tieferen Einkommen – zum Beispiel Teilzeitgehältern – wären dadurch im Alter und bei Invalidität besser abgesichert. «Dies betrifft nicht nur Frauen», betont Gumbatshang, «denn immer mehr Männer arbeiten Teilzeit.»
Finanzielles Gleichgewicht nur kurzfristig
Auch in der 1. Säule ist der Reformbedarf mit der Annahme der AHV 21 nicht vom Tisch. Zwar hat sich der Reformstau nach fast 30 Jahren erst einmal aufgelöst. Bereits ab 2027 werden die AHV-Einnahmen allerdings nicht mehr ausreichen, um die Ausgaben zu decken. Gumbatshang: «Es wird weitere Reformen brauchen.»
3. Säule bleibt zentral
Trotz einer gestärkten AHV: Selbstverantwortung bleibt beim Thema Vorsorge zentral. «Die Gelder der AHV und Pensionskasse reichen schon heute oft nicht aus, um den gewohnten Lebensstandard nach der Pensionierung zu halten», sagt Raiffeisen Vorsorgeexperte Tashi Gumbatshang. Und laut Raiffeisen Vorsorgebarometer rechnen immer mehr Leute damit, dass sie im Ruhestand mehr Geld brauchen werden. Der Grund: «Rentnerinnen und Rentner werden zunehmend agiler – mit entsprechenden Konsumbedürfnissen», erklärt der Vorsorgespezialist.
Wertschriftensparen: einziges Mittel gegen Inflation
Die 3. Säule – die private Vorsorge – gewinnt also weiterhin an Bedeutung. «In Zeiten von steigenden Zinsen und anziehender Inflation ist das Säule-3a-Konto allerdings so unattraktiv wie nie», sagt Gumbatshang. Das Problem: In unsicheren Zeiten scheuen sich die Leute, mit Wertschriften vorzusorgen. Die Lösung: «Es gilt, die langfristige Perspektive einzunehmen und dies trotzdem frühzeitig zu tun. Wertschriftensparen ist das einzige Mittel, um der Inflation in der Vorsorge zu entkommen.»
Raiffeisen Vorsorgebarometer 2022
Das Raiffeisen Vorsorgebarometer ist eine repräsentative Studie, die jährlich in allen Schweizer Landesteilen zum Thema Altersvorsorge durchgeführt wird. 2022 fand die Befragung zum fünften Mal statt, dabei lag der Fokus auf der Zukunftsfähigkeit des Schweizer Dreisäulensystems.
Tashi Gumbatshang
Leiter Kompetenzzentrum Vermögens- und Vorsorgeberatung Raiffeisen Schweiz
Tashi Gumbatshang leitet das Kompetenzzentrum für Vermögens- und Vorsorgeberatung bei Raiffeisen Schweiz. Er studierte Betriebswirtschaft an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW sowie Arbeits- und Organisationspsychologie an der Bergischen Universität Wuppertal in Deutschland. Tashi Gumbatshang ist Absolvent der Swiss Banking School und eidg. dipl. Finanz- und Anlageexperte. Im Nebenamt ist er als Dozent für Finanz- und Wirtschaftspsychologie an der Kalaidos Fachhochschule tätig.