«Diagonal». Wie sieht das Büro der Zukunft aus?
Das vergangene Jahr hat nicht nur die Art verändert, wie wir leben, sondern auch, wie wir arbeiten. Homeoffice, Online-Meetings – und in Lockdown-freien Zeiten boomten die Co-Working-Areas. In der dritten Ausgabe unserer Jahresserie «Diagonal» beleuchtet Andreas Choffat, RUZ Experte und Geschäftsführer der Choffat&Co gmbh mit dem Prinzip der Regnose den Arbeitsalltag im Jahr 2025. Auch in der Westschweiz hat der «Trend» des Coworking mittlerweile Einzug gehalten, findet Lucien Meylan, Geschäftsführer der spurring.ch in Lausanne. Doch seine Einschätzung geht noch einen Schritt weiter: Ist es möglich, eine Veränderung des Arbeitsverhaltens herbeizuführen, ohne vorherige Rücksprache mit den jeweiligen Teams?
«Coworking hat mein Leben flexibilisiert»
Lieber Lucien
Wie die meisten hoffe ich, dass die Corona-Pandemie endlich ein Ende nimmt – ich kann mir vorstellen, dass auch bei euch in der Romandie langsam der Corona-Koller herrscht. Natürlich – in ganz vielen Bereichen sind im vergangenen Jahr Meilensteine erreicht worden, von denen ich nur zu träumen gewagt habe. Unter anderem auch bei der Arbeitsorganisation: Homeoffice, Online-Meetings und in Lockdown-freien Zeiten boomten die Co-Working-Areas. Wer weiss, wo das noch hinführt. Kennst du das Prinzip der Regnose? Ich möchte mit dir nun geistig ins Morgen springen und «rückwärts» die Arbeitsorganisation von heute anschauen. Bist du bereit?
Wir sind im Jahr 2025 und sitzen bei einem kräftigen Cappuccino im Coworking Space in Worb, dem Wohn- und meist auch Arbeitsort von Karin. Karin ist 39 Jahre und arbeitet als Versicherungsmathematikerin in einem grossen Versicherungskonzerns. Bisher befand sich ihr «erster Arbeitsplatz» in Basel. Bis vor fünf Jahren bezeichneten die meisten Unternehmen das klassische Büro als ersten Arbeitsplatz, das Homeoffice als zweiten und den Coworking Space als dritten Arbeitsplatz. Das hat sich geändert. Das Interview mit Karin Z. hat Karl Meier, Journalist aus Bern geführt. Er ist ebenfalls Coworker. Die beiden Gesprächspartner haben sich auf das in der Coworking-Community übliche «Du» geeinigt.
Karl: Wie dürfen wir uns einen ganz normalen Arbeitstag in deinem Leben vorstellen?
Karin: Nachdem ich mit meinen Kindern gefrühstückt habe, verlasse ich an drei von vier Tagen das Haus um ca. 7.45h und begebe mich hierhin, in den Coworking Space in Worb. Nach ein paar Videobotschaften lese ich die wenigen Mails, die noch eintreffen. Und dann beginnt mein Arbeitstag, der zu 40-50% aus Teammeetings besteht. Am Mittag treffe ich mich häufig mit einigen Mitgliedern einer Gruppe von spannenden Worber*innen, die teilweise auch im Coworking arbeiten. Die Nachmittage sind dann fürs Tagesgeschäft reserviert.
Karl: Was hat sich in den letzten Jahren in deinem Arbeitstag massiv verändert?
Karin: Wenn ich mich an früher erinnere, mit dem täglichen Arbeitsweg von Bern nach Basel, kommen in mir Stressgefühle auf. Zuerst das Frühstück bereitmachen, mein Mann hat geschaut, dass die Kinder etwas essen, ich war bereits im Zug nach Basel unterwegs, häufig mit leichten Verspätungen, der Stresslevel steigt. Wenn dann noch die letzten Sitzplätze weg waren, dann hat der Tag schon suboptimal begonnen.
Heute kann ich am Morgen eine Stunde länger schlafen, am Abend kann ich mit meiner Freundin in Worb regelmässig Tennis spielen gehen und wir können erst noch meistens zusammen Nachtessen; die Trainingstage der Kinder sind die einzige regelmässige Ausnahme. Zusammengefasst ist mein Leben entspannter, sozialer und gesünder. Das tut gut.
Karl: Was schätzt du in deinem Leben heute ganz besonders?
Karin: Meine Optionen haben sich vervielfacht. Schau mal: durch die Reduktion der Pendlerei konnte ich meinen Beschäftigungsgrad von 50 auf 80% steigern, dadurch haben sich mir im Unternehmen ganz neue Arbeitsgebiete erschlossen und ich habe als Folge verantwortungsvollere Aufgaben und Rollen angeboten erhalten. Dadurch bin ich dem Grundsatz «gleiche Chancen für alle» ein Stück nähergekommen. Dies hat mich als Mensch gestärkt.
Karl: Was empfiehlst du uns, wie Frau und Mann sich in Richtung standortunabhängiges Arbeiten aufmachen können?
Karin: Gehen Sie mit einem konkreten Vorschlag, der auch für den Arbeitgeber einen Nutzen beinhaltet, auf die verantwortlichen Vorgesetzten zu. Verhandeln Sie mit stichhaltigen Argumenten wie «Steigerung der Freude», demzufolge auch der Motivation, höhere Verfügbarkeit, das Risiko der Zugverspätungen entfällt und mehr Planbarkeit in vielen Bereichen des täglichen Arbeitslebens. Zusammengefasst: Flexibilisieren Sie Ihr Denken und Handeln und machen Sie Ihrem Arbeitgeber interessante Angebote für Ihre Einsatzmöglichkeiten.
Nun lieber Lucien gehen wir zurück in das Hier und Heute. Ich bin gespannt, wie die Arbeitsformen bei euch in der Romandie aussehen – und wie deine Prognose resp. Regnose aussieht.
Andreas
«Mit dem Coworking hat mein Unternehmen einen Schritt nach vorne gemacht.»
Hallo Andreas
Zunächst möchte ich dir für deine Nachricht und Karins sehr relevante Projektion der zukünftigen Arbeitsbedingungen im Dienstleistungssektor im Jahr 2025 danken. Aus meiner Sicht wird die Corona-Pandemie kurzfristig eine Menge Unsicherheit hinterlassen. So haben sich viele Unternehmen zum Innovieren gezwungen gesehen – nur so lässt sich die Krise überleben – und haben eine ganze Reihe von Massnahmen in ihren Teams ergriffen, einschliesslich des Homeoffice. Leider sind wir momentan etwas geblendet von der «Trendigkeit» einer solchen hundertprozentigen Organisation, ohne jedoch die sozialen Auswirkungen auf die Gruppendynamik analysieren zu können.
Gerade durch die fabelhafte Energie der Gruppendynamik können Einstellungs- und Meinungsänderungen begünstigt werden. Aber ist es möglich, eine Veränderung des Arbeitsverhaltens herbeizuführen ohne vorherige Rücksprache mit den jeweiligen Teams? Eine Veränderung – von Natur aus ein Innovationsträger –, die dem Lauf der Zeit folgt, aber ebendiese Teams betrifft? Heute wundere ich mich über die Auferlegung des Homeoffice, veranlasst durch das Gesetz und nicht durch eine Entscheidung des Managements. Die Leadership ist zerstritten, und wir als Manager müssen nun unsere Mitarbeitenden dazu bringen, dass sie eine neue Realität akzeptieren, die letztlich vom Staat beschlossen wurde.
Welche Alternativen gibt es also zum heimischen Alleinsein? Das Coworking vielleicht. Ein Ort, an dem das ultimative Ziel die gemeinsame Nutzung von Ressourcen ist. Ein Ort, an dem wir einen Teil dessen wiederfinden, was im modernen Unternehmertum ganz zuoberst steht: die Demokratie. Coworking zeichnet sich natürlich durch seine Effizienz aus, beispielsweise bei der Kostenoptimierung, vor allem aber auch durch sein Bestreben, gegenseitige Hilfe und Unterstützung in einer Gemeinschaft innerhalb eines gemeinsamen geografischen Gebiets zu fördern.
Das ländliche Coworking in der französischsprachigen Schweiz entsteht langsam unter den jungen Unternehmern, deren Anliegen das Vermitteln, Vernetzen und Vertreten einer ehrgeizigen und kreativen Geisteshaltung ist. Raymond Chapuis sagte: «Der Wert eines Teams liegt nicht in der Addition von Einzelkapazitäten, sondern in deren Kombination in aktiver Komplementarität.» Dieses Zitat führt mich zu einer weiteren Überlegung: Können wir unsere Mitarbeitenden so auswählen, dass ihre Fähigkeiten genau die unseren ergänzen? Und schon zeichnen sich die Grenzen des Coworking ab.
Das oberste Ziel einer guten Unternehmensführung ist es, die richtigen Profile für die erforderte Leistung zusammenzubringen. Da das Geschäftsmodell eines Coworking Space hauptsächlich auf Gewinn abzielt, stellt sich die Frage, inwieweit es – mal abgesehen von der Anmietung eines potenziell günstigeren Arbeitsplatzes – den Bedürfnissen eines Teams gerecht wird. Abschliessend lässt sich sagen, dass der Reiz des Coworking aufgrund seines Images und seiner Flexibilität gross ist. Es ist jedoch wichtig, den sozialen Nutzen eines solchen Unterfangens im Voraus zu bestimmen. Das Coworking, ein Ort der Gemeinschaft, ein Raum für den fachlichen Austausch oder einfach ein Schritt im Aufbau meines Teams? Dies kann nur anhand der eigenen Erfahrung beurteilt werden.
Lucien
Schlüsselerkenntnisse zu neuen Arbeitsformen
- Coworking auf dem Land bedient sich anderer Geschäftsmodelle.
- Coworking auf dem Land ist gesellschaftlich wünschenswert, aber kurzfristig selten wirtschaftlich.
- Coworking auf dem Land funktioniert vor allem als Netzwerk.
- Coworking auf dem Land hat belebende Effekte auf Ortsgemeinschaften.$
- Coworking auf dem Land ist vielfältiger als in den Städten.
- Coworking auf dem Land profitiert von mobilen Arbeitsstilen
(Quelle: Studie Coworkland, Deutschland finanziert durch Bertelsmann Stiftung)