Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen
Ausgabe 15.01.2025
Fredy Hasenmaile
Raiffeisen Chefökonomen
Blockiertes Europa
Die gescheiterten Koalitionsverhandlungen in Österreich zu Beginn des Jahres 2025 geben einen Vorgeschmack darauf, was in diesem Jahr in Europa zu erwarten ist: schwierige Regierungsbildungen, politische Blockaden, Stillstand. Die beiden grössten Volkswirtschaften Europas besitzen derzeit keine funktionsfähige Regierung. Ein beunruhigendes Zeichen zu einem Zeitpunkt, in dem die Wirtschaft in der Eurozone mehr oder weniger stagniert, die Stimmung trübe bleibt und der strukturelle Handlungsbedarf immer offensichtlicher wird. Zwar stehen in Deutschland bald Wahlen an. Doch ob daraus eine reformwillige Koalition hervorgeht, steht in den Sternen. Die politischen Ausgangslagen in vielen europäischen Ländern zeugen von einer tiefer liegenden Malaise. Die zunehmende Polarisierung der Parteienlandschaft spiegelt sich in der Bevölkerung wider, was stabile Mehrheiten und die Suche nach Kompromissen erschwert.
Österreich ausgebremst
In Österreich bahnt sich Historisches an. Zum ersten Mal könnte der Regierungschef nicht aus den Reihen der Sozialdemokraten oder der Konservativen stammen – der Parteien, die diese Republik «aufgebaut» haben. Die etablierten Parteien wirken desorientiert und ratlos. Wochenlang versuchten sie, ihre Politik des Durchwurstelns doch noch zu retten – vergeblich. Die liberale Partei NEOS wollte dazu keine Hand mehr bieten. Letztlich ist die Dreierkoalition an den Herausforderungen der Zeit gescheitert. Geld gibt es keines mehr zu verteilen. Die Wirtschaft steckt in einer hartnäckigen Rezession, die Arbeitslosigkeit liegt bei etwa sieben Prozent und hohe Lohnabschlüsse belasten die Wettbewerbsfähigkeit. Die Wahrscheinlichkeit ist nun gross, dass die rechtspopulistische und EU-skeptische Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) die nächste Regierung stellen wird.
Frankreich in der Sackgasse
In Frankreich hat Präsident Emmanuel Macron das Land mit der vorgezogenen Parlamentswahl im Sommer 2024 unnötig in eine instabile Situation manövriert. Wie lange sich der aktuelle Premierminister François Bayrou – bereits der vierte innerhalb eines Jahres – halten kann, ist unklar. Wirtschaftlich hat Macron mit seinem Reformkurs zuvor vieles richtig gemacht und den französischen Wirtschaftsstandort gestärkt. Die französische Wirtschaft wuchs in den letzten Jahren deutlich stärker als die deutsche. Dennoch honorierten die französischen Stimmbürgerinnen und Stimmbürger dies nicht. Die hohe Inflation und Versuche, den grosszügigen Sozialstaat etwas einzudämmen, schürten die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den etablierten Parteien und verhinderten, dass Macron die Früchte seiner Wirtschaftspolitik ernten konnte. Die traditionellen Zentrumsparteien sind zunehmend fragmentiert. Das Wahlvolk entscheidet sich immer mehr für extremistische Positionen auf der weit linken oder rechten Seite, was notwendige Reformen erschwert. Etwa die dringend nötige Rentenreform, mit der Privilegien abgebaut und die langfristige Finanzierung sichergestellt werden soll. Frankreich droht eine Phase kurzlebiger Minderheitsregierungen, die sich zwar abmühen, aber kaum etwas zustande bringen.
Deutschland vor einer Richtungswahl
Das Scheitern der Ampelregierung in Deutschland war letztlich nur noch eine Frage der Zeit. Die ideologischen Gräben zwischen den drei Koalitionsparteien wurden immer grösser. Während das Land – verunsichert durch immer klarer zutage tretende Infrastrukturmängel und gewaltige Herausforderungen infolge des wirtschaftlichen Strukturwandels – von Stimmungstief zu Stimmungstief taumelte, fanden die regierenden Parteien keine glaubwürdigen Antworten auf die drängenden Fragen der Zeit: Sicherheit, Migration, Energie- und Wirtschaftskrise sowie Klimawandel. Stattdessen lieferten sie sich politische Scharmützel, die mehr auf Wahlkampf als auf Problemlösung ausgerichtet waren. Das Regierungsvakuum kommt zum ungünstigsten Zeitpunkt. Deutschland würde gerade jetzt als Führungsnation in der EU gebraucht. Es besteht aber das grosse Risiko, dass in Deutschland eine Koalition resultiert, die stark divergierende Interessen verfolgt. Dies lässt wenig Hoffnung auf eine schlagkräftige Regierung, die sich zügig an die Herausforderungen machen könnte. Die weniger als unambitionierten Wahlprogramme bestätigen diese Befürchtung.
Führungsloses Europa
Europa ist führungslos in einem Zeitpunkt, wo der Kontinent nicht nur von revisionistischen Autokratien in Russland und China herausgefordert wird, sondern auch von der globalen Führungsmacht Amerika, die das transatlantische Bündnis nur noch halbherzig unterstützt oder gar den Bündnispartnern droht. Die Zeit, dem Wahlvolk die ungeschminkte Wahrheit vorenthalten zu wollen, läuft ab. Europa steht vor unpopulären Entscheidungen. Drastische Budgetkürzungen oder Steuererhöhungen sind unumgänglich. Die jahrelange Schwächung marktwirtschaftlicher Prinzipien, die Ausweitung des Wohlfahrtsstaates und eine nicht nachhaltige Ausgabenpolitik haben ineffiziente Strukturen geschaffen. Verschärfend kommt hinzu, dass die Rentensysteme aufgrund der demografischen Entwicklung aus dem Ruder laufen. Populistische Parteien locken Wählerinnen und Wähler an, indem sie sich als Bollwerk gegen den Sozialabbau darstellen und zudem mit Themen wie Migration und Sicherheit zu punkten versuchen. Damit greifen sie zwar gesellschaftliche Sorgen auf, die die etablierten Parteien bislang sträflich vernachlässigt haben. Andererseits sind aber viele dieser neuen Bewegungen nicht bereit, an tatsächlich umsetzbaren Lösungen der Probleme konstruktiv mitzuwirken. Stattdessen setzen sie auf Polarisierung und einfache Antworten, die der Komplexität unserer Welt oft nicht gerecht werden. Das unterschwellige Problem dabei ist, dass die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger noch nicht willens sind, die ökonomischen Realitäten zu akzeptieren. Noch immer glauben sie den Beteuerungen populistischer Parteien, es gebe einen Weg, um den Herausforderungen schmerzlos zu entrinnen. Das dürfte die europäische Agonie nur verlängern, aber nicht aufhalten.
Fredy Hasenmaile
Raiffeisen Chefökonom
Seit 2023 ist Fredy Hasenmaile Chefökonom von Raiffeisen Schweiz und Leiter des Economic Research der Bank. Er analysiert mit seinem Team die globalen und Schweizer Wirtschafts- und Finanzmarktentwicklungen und ist für die Einordnung des Wirtschaftsgeschehens sowie die Prognose von wirtschaftlichen Schlüsselkennzahlen verantwortlich.