«Auch wenn man alle Risiken kennt, werden sie nicht kleiner»
Manche Krisen und Kriege haben weltweite Auswirkungen – und sind schliesslich auch in unserem Portemonnaie zu spüren. Raiffeisen Chief Investment Officer Matthias Geissbühler und sein Team analysieren diese Zusammenhänge. Sie versuchen, Risiken nicht per se zu vermeiden, sondern die Chancen zu nutzen, die sich gleichzeitig bieten.
Ukrainekrieg, Pandemie oder Inflation – die Nachrichten sind voll mit negativen Schlagzeilen. Welche Folgen hat das?
Matthias Geissbühler: Die Folgen sind überall spürbar. Wir sprechen darum auch von «globalen Risiken», die auf die weltweite Wirtschafts- und Börsenentwicklung einwirken. Zum Beispiel der Ukrainekrieg: Er beeinflusst die Weltwirtschaft zwar nicht direkt. Aber durch ihn steigen die Rohstoffpreise, was vieles verteuert. Auch die Pandemie wirkt sich nach wie vor aus, selbst wenn sie zumindest bei uns als überwunden gilt. Die Null-Covid-Strategie Chinas führt zu Produktions- und Lieferengpässen und diese tangieren die ganze Weltwirtschaft in Form von steigenden Preisen.
Womit wir bei der Inflation wären. Spüren wir das bald auch in unseren Portemonnaies?
Ja, jeder wird den Inflationsanstieg merken.
«Es geht Kaufkraft verloren und mit ihr das Vertrauen der Konsumenten. Erste Anzeichen eines wirtschaftlichen Abschwungs sind deshalb bereits zu beobachten.»
Wie konkret?
Mietnebenkosten und Krankenkassenprämien werden mittelfristig steigen. Auch die Lebensmittelpreise haben sich erhöht. Mit 2,9 Prozent ist die Inflation in der Schweiz im Vergleich moderat. Aber bei Inflationsraten von 8 Prozent in Europa und in den USA sieht man: Es geht Kaufkraft verloren und mit ihr das Vertrauen der Konsumenten. Erste Anzeichen eines wirtschaftlichen Abschwungs sind deshalb bereits zu beobachten.
Wird uns das länger beschäftigen?
Ja, es besteht das Risiko, dass die Inflation längerfristig hoch bleibt. Die Lohndiskussionen werden im Herbst von den Gewerkschaften pointiert geführt werden. Es besteht die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale. Das heisst: Dass die Löhne zwar steigen, aber mit ihnen auch wieder die Preise.
Was können die Expertinnen und Experten von Raiffeisen tun?
Wir beurteilen die Risiken, bereiten Szenarien vor und kommunizieren nach aussen. Doch auch wenn man sämtliche Risiken kennt, werden sie nicht kleiner – aber man kann sich vorbereiten.
Was heisst das für die finanzielle Zukunft jedes Einzelnen?
In der momentanen Situation lohnt es sich nicht, Geld auf dem Sparkonto zu horten – weil es langfristig an Wert verliert. Wir raten daher, Sachwerte zu kaufen. Doch im aktuellen Umfeld sind die Risiken zu präsent, um die ganze Summe auf einmal zu investieren. Besser sind Fonds-Sparpläne, bei denen man monatlich einzahlt. Das Geld wird nach und nach angelegt, so gleichen sich Kursschwankungen aus.
«Um Risiken zu vermindern, diversifizieren wir – das heisst, wir investieren in viele verschiedene Anlageklassen.»
Das bedeutet: In unsicheren Zeiten soll man eher defensiv anlegen?
Ja. Wir tragen eine Verantwortung gegenüber unseren Kundinnen und Kunden und fokussieren uns auf das Risikomanagement. Um Risiken zu vermindern, diversifizieren wir – das heisst, wir investieren in viele verschiedene Anlageklassen. Nicht nur Aktien gehören dazu, sondern auch zum Beispiel Gold, weil es Schutz bietet in Krisenzeiten.
Kann man denn ganz ohne Risiko anlegen?
Dafür müsste man beispielsweise Schweizer Staatsanleihen mit zweijähriger Laufzeit kaufen. Doch der Ertrag liegt gerade mal bei 0,3 Prozent. Mit der Inflation ergibt das einen Realzins von rund Minus 2,5 Prozent. Man verliert also Geld. Beim Anlegen geht man zwar immer ein Risiko ein. Doch dieses Risiko lässt sich steuern. Etwa indem man Aktien von Gesellschaften wählt, welche die höheren Kosten in Form von Preisaufschlägen direkt an die Konsumenten weitergeben können. Solche Titel finden sich beispielsweise im Gesundheitsbereich oder in der Nahrungsmittelbranche. Um die Wechselkursrisiken auszuschliessen, könnte man auf Schweizer Titel setzen.
Es bieten sich also auch Chancen?
Ja, es ist eine Frage der Perspektive. Wer ein Unternehmen gründet, geht zwar ein Risiko ein – aber sieht es eher als eine Chance. Dasselbe gilt beim Kauf von Aktien. Man sollte Risiken nicht per se vermeiden, sondern sie managen. Diese kalkulierten Risiken kann man eingehen. Dabei muss man beachten, dass jede Person eine andere Risikofähigkeit und Risikobereitschaft besitzt. Tendenziell überschätzen sich die Menschen und halten sich für risikobereiter, als sie tatsächlich sind. Fallen die Kurse, werden viele nervös. Entscheidend ist also, dass Anlegerinnen und Anleger die für sie passende Anlagestrategie wählen.
Matthias Geissbühler
Chief Investment Officer Raiffeisen Schweiz
Seit Januar 2019 ist Matthias Geissbühler als Chief Investment Officer (CIO) von Raiffeisen Schweiz für die Anlagepolitik verantwortlich. Zusammen mit seinem Team analysiert er kontinuierlich die weltweiten Geschehnisse an den Finanzmärkten und entwickelt die Anlagestrategie der Bank.