Unsere Vorsorge – typisch Schweiz
Unsere Vorsorge ist ein ausgeklügeltes System – eines, das sich in den vergangenen knapp 100 Jahren immer wieder verändert hat und nicht ganz einfach zu durchschauen ist. Damit Sie sich im «Säulenwald» nicht verirren: Hier ist Ihr Kompass zu Entwicklung, aktuellen Herausforderungen und Zukunft der Schweizer Sozialwerke.
Entwicklung: Vorsorge braucht Geduld
Heute steht das Schweizer Vorsorgesystem auf drei Säulen. Begonnen hat aber alles mit einer einzigen, der AHV. Die Idee hinter der 1. Säule ist ein Umlageverfahren: Wer arbeitet, zahlt Beiträge, wer nicht mehr arbeitet, bezieht eine Rente.
1. Säule
Die gesetzlichen Grundlagen für die AHV wurden schon 1925 geschaffen. Doch es dauerte weitere 23 Jahre, bis sie eingeführt wurde. «Das ist typisch für das Vorsorgesystem der Schweiz: Es wird viel diskutiert, die Entscheidungsprozesse sind lang – und zum Schluss muss man die Stimmbevölkerung immer ein wenig anstupsen, damit sie Veränderungen zustimmt», sagt Tashi Gumbatshang, Wirtschaftspsychologe und Vorsorgeexperte bei Raiffeisen Schweiz.
2. Säule
Die Grundlage für die 2. Säule, die berufliche Vorsorge, wurde vor genau 50 Jahren gelegt. 1972 stimmten Volk und Stände der Verankerung des Drei-Säulen-Systems in der Bundesverfassung zu. Bis zur Einführung der obligatorischen Pensionskasse brauchte es dann aber doch noch etwas Geduld: 13 Jahre dauert es, bis die berufliche Vorsorge 1985 in Kraft trat. Anders als bei der AHV sparen die Versicherten hier für sich selbst – unterstützt von ihrem Arbeitgeber. Jedes Unternehmen ist einer Pensionskasse angeschlossen, wo für jeden Mitarbeidenden ein Konto besteht. Monatlich werden ein fixer Prozentsatz des Lohns und ein gleich hoher Beitrag des Arbeitgebers darauf einbezahlt.
3. Säule
Komplettiert wird das Vorsorge-Trio von der 3. Säule, die es seit 1987 gibt. Es ist die freiwillige private Vorsorge, für die jeder selber zuständig ist. Die Säule 3a ist die gebundenen Variante der privaten Vorsorge: Sie kann als Aufstockung von AHV- und Pensionskassenrente, für den Kauf von Wohneigentum oder für die berufliche Selbständigkeit eingesetzt werden. «Sie ist damit nicht nur Vorsorge, sondern eigentlich auch staatlich gefördertes Bausparen oder staatlich gefördertes Gründungskapital», erläutert Tashi Gumbatshang. Staatlich gefördert darum, weil Einzahlungen in die Säule 3a von den Steuern abgezogen werden können.
Ihr Pendant ist die Säule 3b – die ungebundene oder freie Vorsorge. Sie ist nicht an bestimmte Zwecke geknüpft, muss nicht zwingend erst im Alter bezogen werden und kennt keine Einzahlungslimite, hat dafür aber nur begrenzte steuerliche Vorteile.
Herausforderungen: Demografie, fehlendes Vertrauen, klaffende Lücken
«In anderen Ländern wird viel mehr auf Eigenverantwortung gesetzt als bei uns», sagt Tashi Gumbatshang. «Will heissen: Im weltweiten Vergleich haben wir ein sehr luxuriöses Vorsorgesystem.» Perfekt ist es trotzdem nicht. Ein Problem ist der demografische Wandel: Die Lebenserwartung in der Schweiz steigt, die Geburtenquote sinkt, die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer-Generation gehen in Rente. Das führt zu einem Missverhältnis zwischen denjenigen, die in die AHV einzahlen, und jenen, die Geld daraus beziehen. Das Raiffeisen Vorsorgebarometer zeigt: Diese Entwicklung besorgt die Schweizerinnen und Schweizer und kratzt am Vertrauen, das sie dem Vorsorgesystem entgegenbringen.
«Es ist keineswegs so, dass unsere Sozialwerke per se das eine Geschlecht bevorzugen und das andere benachteiligen. Sie behandeln eigentlich alle gleich.»
Tashi Gumbatshang, Leiter Beratungszentrum Vermögen & Vorsorgen bei Raiffeisen Schweiz
Eine weitere Herausforderung sind die Unterschiede zwischen Mann und Frau, die sich stark auf die Vorsorge auswirken. Tashi Gumbatshang betont, dass daran nicht ein unfaires Vorsorgesystem schuld sei. «Es ist keineswegs so, dass unsere Sozialwerke per se das eine Geschlecht bevorzugen und das andere benachteiligen. Sie behandeln eigentlich alle gleich. Aber das korrespondiert nicht immer mit gesellschaftlichen und kulturellen Realitäten in der Schweiz.»
Konkret: Frauen arbeiten viel häufiger Teilzeit als Männer, leisten den Löwenanteil an unbezahlter Arbeit und sind tendenziell in schlechter bezahlten Berufen tätig. Aufgrund des tieferen Einkommens zahlen sie weniger in die Pensionskasse ein und haben seltener genügend finanzielle Reserven, um eine 3. Säule aufzubauen. Kurz: Sie müssen im Alter mit weniger Geld auskommen und sind stärker von Altersarmut betroffen.
Zukunft: Neue Wege sind gefragt
Tashi Gumbatshang beobachtet einen allmählichen Abbau dieser Diskriminierung: «Der Trend zeigt: Frauen haben nicht nur die gleichen Chancen wie Männer, es ist ihnen je länger je besser möglich, diese Chancen tatsächlich zu nutzen.» Das ist einerseits ein positiver Effekt für die einzelne Frau, andererseits profitiert das ganze Vorsorgesystem: Mehr berufstätige, in höheren Pensen arbeitende Frauen spülen mehr Geld in die Sozialwerke. Und das kommt allen zugute.
«Ein Problem sind die vielen festen Grössen, auf denen das System beruht: zum Beispiel das AHV-Rentenalter oder der Umwandlungssatz der Pensionskassen.»
Tashi Gumbatshang, Leiter Beratungszentrum Vermögen & Vorsorgen bei Raiffeisen Schweiz
Ist folglich alles nur eine Frage der Zeit und des gesellschaftlichen Wandels? Nein, sagt Tashi Gumbatshang, es braucht auch Reformen im Vorsorgesystem. «Ein Problem sind die vielen festen Grössen, auf denen das System beruht: zum Beispiel das AHV-Rentenalter oder der Umwandlungssatz der Pensionskassen. Damit wir nicht ständig den veränderten Rahmenbedingungen hinterherrennen, bräuchte es mehr Flexibilität.» Also zum Beispiel kein Referenzalter 65, sondern ein Rentenalter «Lebenserwartung minus x». Tashi Gumbatshang: «Dann müssen wir uns nur noch darauf einigen, was x sein soll.»
Schliesslich müssen auch die Versicherten mehr Verantwortung übernehmen – indem sie die wirtschaftlichen Entwicklungen im Auge behalten. «Derzeit trüben Inflationssorgen den Ausblick. Für Sparerinnen und Sparer bedeutet die Geldentwertung: Wer auf ein Vorsorgekonto 3a einzahlt, verliert langfristig Geld.»
Deshalb sollten sich Schweizerinnen und Schweizer mit anderen Formen der Vorsorge auseinandersetzen und ihr Vorsorgegeld beispielsweise in Fonds anlegen. «Wer früh beginnt und einen langen Anlagehorizont hat, kann die Renditechancen an den Finanzmärkten optimal nutzen und gleichzeitig Risiken minimieren.»